Leseprobe "Das Gemälde der Tänzerin"

 

 

Erster Akt

 

 

Die Tänzerin im Regen

 

Strasbourg, 1865

 

Beinahe schwerelos wie ein Schmetterling tanzte sie über das Feld und ignorierte die herunterprasselnden Regentropfen. Ihr langes Haar und das weiße Kleid waren längst durchnässt, aber es kümmerte sie nicht. Mit ihren elegant in der Luft schwingenden Gliedern fing sie die Tropfen auf, als wären es Perlen, die vom Himmel fielen.

 Amos Löwenfeld verfolgte ihre Bewegungen gebannt und versuchte sich jede Einzelheit einzuprägen. Später würde er seine Tänzerin im Regen malen. Es sollte ein Gemälde für die Ewigkeit werden, welches an diesen glücklichen Tag erinnern und Kraft und Hoffnung in dunklen Zeiten spenden würde. Sie hatten in den vergangenen Monaten viel zusammen durchgestanden und alles verloren, dafür aber die Liebe gewonnen. Doch Amos spürte, dass das Elend noch nicht vorbei war. Rache, aber auch Krieg hingen wie die düsteren Regenwolken über ihnen und warteten nur darauf, sie mit aller Stärke zu vernichten.

 Amos versuchte seine Sorgen zu vergessen und sich gänzlich auf seine große Liebe, sein Modell für das neue Gemälde zu konzentrieren. Rosaline, die Tänzerin im Regen.

 

 
 

Kapitel 1

 

 

Luzern

 

Mittwoch, 20. Juni 2018

 

 

Helena

 

Helena unterdrückte den Impuls laut loszulachen, obwohl ihr eigentlich zum Heulen zumute war. Welche Ironie des Schicksals! Da hatte sie endlich Aussicht auf einen Job, und dann das!

»Die Stelle ist wirklich im Hotel Kronenberg?«, fragte sie, um sich zu vergewissern, dass sie Frau Lutz – ihre Personalberaterin hier im RAV, dem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum – richtig verstanden hatte.

Diese strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr der brummende Ventilator alle zehn Sekunden erneut in die Stirn wehte. »Genau.«

»Unglaublich«, murmelte Helena, was Frau Lutz stirnrunzelnd quittierte.

»Frau Saxer«, begann sie mit warnendem Unterton. »Andere Möglichkeiten haben Sie nicht. Ich weiß, Sie möchten wieder als Verkäuferin arbeiten, doch diese Stellen sind momentan rar. Seit die Modekette Jewel so viele Filialen schließen und Mitarbeiter entlassen musste, ist …« Ruckartig wandte sie sich zum Ventilator. »Dieses Gerät treibt mich noch in den Wahnsinn!« Sie stellte ihn so ein, dass er sich nicht mehr drehte und stattdessen nur in eine Richtung – Helenas Richtung – blies. Vorsichtig rückte Helena ihren Stuhl etwas nach rechts, um dem Wind zu entgehen und hörte Frau Lutz aufmerksam zu.

»Jedenfalls ist die Situation seither höchst prekär. Dazu kommt, dass sich gewisse Geschäfte sogar Verkaufsroboter anschaffen, wodurch unqualifizierte Leute wie Sie ihre Stelle verlieren.«

Helena schluckte. Selbst für sie klang es nach wie vor absurd, entsprach aber leider der Wahrheit. Ihre ehemalige Chefin war eine Trendsetterin und wollte auch technologisch einen Schritt weiter sein als andere Kleidergeschäfte. Deshalb hatte sie sich einen Verkaufsroboter angeschafft – ein blödes Ding aus weißem Kunststoff.

Helena konzentrierte sich wieder auf Frau Lutz, die ihr gerade einen Vortrag hielt.

»Unser Ziel ist Ihre rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Deshalb unterstützen wir Sie ja auch in jeder Form. Aber im Gegenzug verlangen wir, dass Sie Ihren Pflichten nachkommen. Dazu gehört auch, nicht wählerisch zu sein und sich für jede zumutbare Stelle zu bewerben! Auch als Zimmermädchen!«

Helena nickte schnell. »Ja, ich weiß. Ich habe wirklich kein Problem damit, Zimmer zu putzen. Nur nicht im Hotel Kronenberg.«

Frau Lutz rückte ihre Brille zurecht. »Was haben Sie gegen das Kronenberg? Es ist ein Fünf-Sterne-Nobelhotel.«

Helena starrte auf eine Reihe schief stehender Ordner auf dem Schreibtisch, die jederzeit umfallen konnten. Die Inhaber des Kronenbergs haben vor vielen Jahren mein Leben zerstört, hätte sie am liebsten gesagt, murmelte stattdessen aber ein bedeutungsloses »eigentlich nichts«, was Frau Lutz aufseufzen ließ.

»Frau Saxer, Sie sind jetzt schon fast drei Monate auf Arbeitssuche. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, sind es bereits fünf, wenn wir die zwei Monate dazuzählen, die Sie noch bei Graziella angestellt waren. Außer einer nicht abgeschlossenen Tanzausbildung können Sie nichts vorweisen. Aber ohne Ausbildung und Qualifikationen sind Sie schwer vermittelbar auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb müssen Sie sich für diesen Job bewerben, sonst kürzen wir Ihnen das Taggeld. Abgesehen davon ist noch nicht klar, ob Sie die Stelle überhaupt erhalten.« Sie schob Helena das Stelleninserat zu. »Falls ja, könnten Sie sofort beginnen. Ein Glücksfall!«

»Ja, ein Glücksfall«, sagte Helena wenig motiviert und faltete das Inserat zusammen. »Ich werde mich bewerben.« Sie würde dadurch zwar ihr Versprechen nicht einhalten, das sie den Kronenbergs vor langer Zeit gegeben hatte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Im Moment ging es nur darum, wieder Geld zu verdienen.

 

***

 

Schwitzend radelte Helena eine Stunde später über die Langensandbrücke. Ein Zug ratterte darunter durch, Autos fuhren an ihr vorbei, und die Sonne brannte in voller Stärke auf ihren Kopf. Doch sie nahm das Treiben um sie herum kaum wahr, ihre Gedanken drehten sich gänzlich um die Stelle im Kronenberg. Sie hatte ihre elektronische Bewerbung vorhin im Informationszentrum des Arbeitshilfswerks abgeschickt und blickte dem Ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits hoffte sie den Job zu bekommen, andererseits hatte sie Angst vor den Kronenbergs. Wenigstens erkannte man sie aufgrund ihres Namens nicht mehr, sie war inzwischen Helena Saxer, nicht mehr Lena Arnold. Sie hatte immer gewusst, dass es eines Tages nützlich sein würde, den Namen ihres Ex-Mannes nach der Scheidung zu behalten. Nichtsdestotrotz, das Risiko einer Begegnung mit den Kronenbergs blieb bestehen, wenn auch ihre kurzen Recherchen zuvor im Internet des Arbeitshilfswerks sie ein wenig beruhigt hatten. Die alte Hexe Irmgard Kronenberg lebte längst nicht mehr, und deren Schwiegertochter Agnes Kronenberg kümmerte sich hauptsächlich um ihre sozialen Projekte. Ihr Sohn Ralph, den Helena am meisten fürchtete, hatte die Leitung des Hotels seinem Sohn übertragen und war nun als Direktor der ganzen Hotelkette Kronenberg Luxury Hotels tätig, deren Hauptsitz in Zürich lag. Gut möglich, dass sie ihm gar nie begegnen würde. Und wenn doch? Wie würde seine Reaktion ausfallen?

Helena trat in die Pedale und vergaß ihre Sorgen mit dem Fahrtwind. Sie fuhr an ihrer Wohnstraße vorbei Richtung Einkaufscenter im Schönbühlquartier. Obwohl es näher gelegene Lebensmittelgeschäfte gab, nahm sie den Umweg in Kauf, weil der Discounter im Einkaufscenter wesentlich billiger war als die anderen Geschäfte.

Als sie wenig später mit ihrer Einkaufsliste den Laden betrat, empfing sie eine angenehme Kühle, aber bei dem Gedanken an ihr streng kalkuliertes Einkaufsbudget und die hohen Preise geriet sie sofort wieder ins Schwitzen. Sie nahm ihr uraltes Nokia-Klapphandy hervor und öffnete die Taschenrechnerfunktion. Beim Obst machte sie den ersten Halt. Eine ältere Frau tastete die Mangos ab und legte sich zwei Stück in den Einkaufswagen, ehe sie die Bananen inspizierte. Helena überflog die Preise auf den Schildchen und erschrak. Fast fünf Franken für ein Körbchen Erdbeeren oder Himbeeren! Die Blaubeeren kosteten sogar über sechs! Auch der Preis für die Pfirsiche und Aprikosen lag noch immer hoch. Helena schluckte ihren Frust hinunter. Wie jedes Mal stieg der Wunsch in ihr auf, einmal nicht auf das Geld achten zu müssen und all das in den Korb zu legen, was ihr Herz begehrte. Aber im Moment musste sie froh sein, wenn sie überhaupt etwas kaufen konnte.

Kurze Zeit später verließ sie den Laden und kam an einer Filiale von Jewel vorbei, dem Kleidergeschäft, das Frau Lutz vorhin erwähnt hatte. Es war kaum zu übersehen, dass es sich um dessen letzte Tage handelte, riesige gelbe Plakate priesen es an: Total Liquidation! Alles muss raus! Jetzt oder nie!

Helena erhaschte einen Blick auf einen Tisch voller zerwühlter Kleidungsstücke und erinnerte sich an ihre Arbeit bei Graziella. Sie hatte den Job gemocht. Es gefiel ihr, die Kundinnen zu beraten, die Schaufensterpuppen anzukleiden und die Klamotten am Abend wieder schön zusammenzufalten. Nun bediente ein Roboter die Kasse und kümmerte sich um die Kunden. Die Aufgaben, die er noch nicht bewerkstelligen konnte, erledigte ihre ehemalige Arbeitskollegin, die mit ihren erst zwanzig Jahren billiger war als Helena mit fünfunddreißig.

Gerade als sie weitergehen wollte, streifte ihr Blick ein dunkelrotes Sommerkleid aus Jersey, das an einer Kleiderstange mit der Beschilderung 70% Liquidationsrabatt hing. Sie spähte auf das Preisschild. Abzüglich Rabatt kostete das Kleid noch immer zwölf Franken. Für viele Leute ein Schnäppchen, aber für sie ein Vermögen.

Sie wandte sich ab und wollte gehen, als ihr plötzlich ihr müdes und blasses Gesicht in einem Spiegel entgegenstarrte. Hilfe! Bin das wirklich ich? Sie trat näher. Fältchen zeigten sich auf der Stirn und um die Augen und Mundwinkel herum. Und hatte sie schon immer solche Augenringe gehabt oder lag das nur an dem grellen Licht? Wenigstens ihr leicht gewelltes, hellbraunes Haar, das sie nackenlang trug, sah hübsch aus. Erst kürzlich hatte es ihre Mutter, eine Friseurin, geschnitten. Von ihren einst hüftlangen Locken hatte sich Helena während der Schwangerschaft vor sechzehn Jahren getrennt und trug seither den praktischen Kurzhaarschnitt. Dabei hatte man sie gerade für ihr Haar immer bewundert. Die schöne Helena mit den Seidenlocken und den azurblauen Augen, hatte sie einst ein Tanzlehrer beschrieben. Doch jetzt war sie weit entfernt von der bezaubernden Ballerina. Wenigstens strahlte sie durch ihre gerade Haltung und den hocherhobenen Kopf noch immer eine gewisse Anmut aus. Die jahrelang antrainierte Grazie war ihr nie verloren gegangen, auch wenn sie das Leben oft niedergedrückt hatte. Richtig getanzt hatte sie aber seit Jahren nicht mehr, und auf Spitze würde sie es ohnehin nicht mehr beherrschen, dazu gehörte hartes Training. Nur gelegentlich ertappte sie sich dabei, wie sie ein paar leichte Tanzschritte durchführte wie ein Demi- oder Grand-plié. Manchmal drehte sie auch eine Pirouette oder machte einen Pas de chat. In ihren Gedanken aber schwebte sie über das Parkett und vollführte ein Fouetté en tournant, wie früher, als sie in Höchstform gewesen war; ein überschlankes biegsames Muskelpaket. Dazu summte sie die Melodien von Tschaikowsky oder Adolphe Adam aus ihren Lieblingsballetten Nussknacker, Schwanensee und Giselle, stellte sich vor, was wäre, wenn sie noch einmal …

»Ach Helena«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, bevor sie ging. »Du bist eine Traumtänzerin.«

 

 

Kapitel 2

 

 

Mexiko/Tulum

 

Donnerstag, 21. Juni 2018

 

 

Noah

 

Kraftvoll paddelte Noah vor die sich aufbauende Welle, sprang auf das Brett und ritt wie in Trance über das rauschende Wasser. Er liebte das Gefühl, mit dem Ozean vereint zu sein und dessen Stärke zu spüren. So nahm er eine Welle nach der anderen, bis allmählich die Dämmerung einsetzte und seine Glieder immer schwerer wurden. Zeit für ein großes Steak und einen Cuba Libre!

Die starke Atlantikströmung hatte ihn ein gutes Stück die Küste hinabgetrieben, sodass er einige Meter am Strand zurücklaufen musste. Ab und zu schwappte eine Welle über seine Füße, und der Wind trug ihm feine Tröpfchen Salzwasser ins Gesicht. Die untergehende Sonne wärmte ihn mit ihren letzten Strahlen und färbte das Meer in einen schillernden Orange-Ton.

Als er sich seinem Bungalow näherte, huschten zwei Agutis – riesige Nagetiere – an ihm vorbei und verschwanden blitzartig im Gebüsch. Von weither vernahm er schwach die Klänge einer Mariachigruppe, die in einem der großen Hotelresorts ihren Auftritt hatte. Ansonsten dominierten das Meeresrauschen, das Geschrei der Möwen und das Fiepen der Vögel aus dem Palmenwald.

Nachdem er sich ein Steak und einen Maiskolben gegrillt und verspeist hatte, schaute er kurz im Hotel vorbei. Nur um sich zu vergewissern, dass Alejandro, sein Assistent, alles unter Kontrolle hatte. Vielleicht sollte er ihn zum neuen Manager befördern und dafür selbst etwas kürzer treten? Dann hätte er noch mehr Zeit für seine Romane. Alejandro und das Team führten das Despacito schließlich ganz nach seinen Vorstellungen. Noah hatte die kleine Hotelanlage in Tulum an der Riviera Maya, einem der schönsten Küstenstreifen an der Karibikküste Mexikos, vor ein paar Jahren aufgebaut. Das Despacito verfolgte ein anderes Konzept als die riesigen Luxusresorts in der Umgebung. Im Vordergrund standen die Natur und die Möglichkeit für die Gäste, dem hektischen Alltag zu entfliehen und vereint mit der Natur zu sich selbst zu finden. Störfaktoren wie TV-Geräte, Animationsshows und dergleichen gab es im Despacito nicht. Auch keine Tennisplätze, Fitnesscenter und wasserverschwendende Swimmingpools. Die Bungalows waren schlicht, und das Restaurant bot urmexikanische Speisen anstelle von Haute Cuisine.

Noah selbst lebte etwa fünfzehn Minuten vom Hotel entfernt, in einem von Kokospalmen umgebenen Bungalow direkt am Meer. Das schlichte Häuschen besaß nur zwei kleine Zimmer, Kochnische, Bad und eine Veranda. Kein Luxus, aber für ihn das Paradies. Was brauchte er mehr als den Ozean, der ihm das Gefühl von Freiheit verlieh? Und die Ruhe, die er für seine Bücher benötigte.

Mit einem Cuba Libre und dem Notebook legte er sich in die Hängematte. Die Wellen schäumten kräftig auf, Palmenblätter raschelten. Wiedermal ein perfekter Abend, dachte er. Fehlte nur noch Seda, aber sie war zurzeit in Monterrey bei ihren Eltern. Wenigstens konnte er sich nun seinem neuen Thriller widmen. »Eigentor« lautete der Arbeitstitel und war sein sechstes Buch. Alle fünf davor hatten es auf die Bestsellerlisten geschafft, zwei waren bereits verfilmt worden, für ein drittes entstand momentan ein Drehbuch. Dass er es einmal so weit schaffen würde, hätte er nie zu träumen gewagt. Allerdings war ihm auch keine Karriere als Schriftsteller, sondern als Direktor eines der Kronenberg Hotels vorbestimmt gewesen. Nur mit viel Mühe hatte er dem entgehen können. Zuletzt war es aber sein Idealismus gewesen, der ihn vor zwölf Jahren nach Mexiko getrieben hatte.

Gerade als er das Notebook starten wollte, klingelte sein Handy und er zog es aus der Tasche seiner Shorts. Für gewöhnlich hatte er es beim Schreiben nicht dabei, aber heute erwartete er einen Anruf von Seda. Sie hatte ihm am Nachmittag bereits geschrieben, dass sie ihm etwas Wichtiges mitteilen müsse. Doch es war nicht Seda, stellte Noah beim Blick auf das Display fest, sondern sein Vater. Seltsam. Für gewöhnlich rief ihn nur seine Mutter an, allerdings nicht um diese Uhrzeit. In der Schweiz war es mitten in der Nacht. Mit unguter Vorahnung ging er ran. »Ja, Vater?«

»Hallo, Noah.« Die sonst schroffe Stimme seines Vaters klang sehr ruhig, was Noahs missliches Gefühl verstärkte. Es gab nur eine Erklärung: Etwas Schlimmes musste passiert sein.


 

Kapitel 3

 

 

Eine Woche später

 

Luzern

 

Donnerstag, 28. Juni 2018

 

 

Helena

 

Nervosität äußerte sich bei Helena nicht nur durch ein schneller pochendes Herz, sondern auch in der Form eines eigenartigen Kribbelns im linken Handgelenk. Schon früher vor den Ballettauftritten hatte sie damit zu kämpfen gehabt. Und jetzt, als sie sich dem Kronenberg näherte, kam es ihr vor, als würden tausende feine Nadeln in ihr Handgelenk stechen. Mit jedem Schritt verstärkte sich das unangenehme Gefühl. Sie ging an der Seepromenade entlang, zwischen einer Allee von Kastanienbäumen, die ein schattenspendendes Baumdach bildeten, vorbei an prachtvollen Jugendstilhotels, dem Casino, dem Tennisplatz beim Tivoli. Als sie das schmiedeeiserne Eingangstor des Kronenbergs erreichte, blieb sie stehen und atmete tief durch. Die Gitterstäbe waren mit einem Monogramm, einem großen K, verziert. An das Tor grenzten hohe Steinmauern, hinter denen sich kräftige Birken erhoben. Obwohl das Tor leicht offen stand, zögerte Helena kurz und bewunderte von hier aus die alten Mauern des imposanten Herrschaftsbaus. Dann straffte sie die Schultern und betrat den Hotelpark. Kieselsteinchen knirschten unter ihren Schuhen, als sie sich dem Gebäude näherte. Vor dem Terrassencafé blieb sie stehen und fragte sich plötzlich, ob es klug wäre, das Hotel durch den Hintereingang zu betreten. Am Ende würde sie sich noch verirren und musste jemanden vom Servicepersonal fragen, wie zum Beispiel die junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, die sie gerade arrogant musterte.

Sie eilte um das Gebäude herum zum Haupteingang bei der Haldenstraße. Direkt vor dem überdachten Eingangsbereich stand ein schwarzer, glänzender Wagen. Ein Hotelpage in blauer Uniform lud Gepäck hinein, während ein Mann mit Chauffeursmütze einem asiatischen Geschäftsmann die Wagentür öffnete.

Unsicher betrat Helena die drei breiten Treppenstufen. Sofort öffnete sich die automatische Eingangstür und ließ sie eintreten in eine andere Welt. Ehrfürchtig schaute sie sich in der Lobby um, die an Prunk kaum zu übertreffen war. Der gewienerte, hellgraue Steinboden – war das Marmor? – glänzte so stark, dass sich die Lichter des riesigen Kristallleuchters an der Decke darin spiegelten. Farblich war alles perfekt aufeinander abgestimmt; von den rauchgrauen und cremefarbenen Chintzsesseln bis hin zu den hohen, mit weißen Lilien gefüllten Porzellanvasen. Als Helena den Empfang ansteuerte, musste sie drei Geschäftsmännern ausweichen, die so vertieft in ihre Unterhaltung waren, dass sie sie nicht sahen. Am Empfang stand eine Dame in geblümtem Seidenkleid und sprach mit dem Rezeptionisten. Helena stellte sich hinter sie und schnappte ungewollt ihre Worte auf.

»Wie tragisch!«, rief die Dame. »Noch vor zwei Wochen habe ich mit ihm telefoniert.« Sie sprach gut Deutsch, aber mit starkem englischen Akzent.

»Ich wollte ihn heute treffen.« Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und fixierte das Liliengesteck auf dem Tresen. Eine Locke ihrer tizianrot gefärbten Haarpracht fiel ihr in das perfekt geschminkte, aber schon recht faltige Gesicht. Sie strich sie hinter das Ohr. Ein langer, mit Diamanten besetzter Chandelier-Ohrschmuck blitzte auf, der die schlaffe Haut ihres Halses zu liebkosen schien.

»Unser Vizedirektor ist hier. Sie können sich mit ihm unterhalten«, schlug der Rezeptionist vor.

Die Dame drehte sich zu ihm. »Nein, das geht nicht. Ich muss mit jemandem von der Familie Kronenberg sprechen.«

»Nun, da wäre noch sein Vater, Ralph Kronenberg. Er leitet die Hotelkette.«

»Ralph Kronenberg!«, spie sie regelrecht aus. »Ausgerechnet der!«

Helena horchte auf. Die Frau war offenbar nicht gut auf Ralph Kronenberg zu sprechen. Helena trat einen kleinen Schritt näher, um die Worte besser aufzuschnappen.

»Aber eine andere Wahl habe ich wohl nicht. Kann ich mich mit ihm unterhalten?«

»Tut mir leid, Mrs Dixon, aber er ist auf der Beerdigung seines Sohnes.«

»Natürlich, die Beerdigung. Dann richten Sie ihm bitte aus, er soll mich bei Gelegenheit kontaktieren. Ich bin ja eine Weile hier.« Sie griff nach der Chaneltasche auf dem Tresen und verabschiedete sich. Als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit Helena zusammen.

»Bitte entschuldigen Sie«, murmelte Helena.

»Nichts passiert«, sagte die Dame mit gewinnendem Lächeln und rauschte davon, eine Wolke zartes Rosenparfüm zurücklassend.

Helena sah ihr nach. Zu gerne hätte sie gewusst, was sie für ein Problem mit Ralph Kronenberg hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Rezeptionist freundlich.

»Ich … äh … ja. Helena Saxer ist mein Name. Ich habe einen Termin bei Frau Geiger.«

Er griff zum Hörer. »Ich melde Sie an. Bitte nehmen Sie Platz.«

 

 

Frau Geiger, Hauswirtschaftsleiterin im Kronenberg, erschien zwei Minuten später in der Halle. Sie war eine massige Person Mitte fünfzig mit aufgedunsenem Gesicht. Nachdem sie sich kurz vorgestellt hatte, führte sie Helena in ein Sitzungszimmer auf der ersten Etage. Im Gegensatz zur pompösen Hotellobby war der Raum schlicht gehalten und enthielt nur einen langen Glastisch mit schwarzen Lederstühlen und einen riesigen Flachbildfernseher an der Wand. Zwei Wasserflaschen und vier Gläser standen auf dem Tisch bereit, doch Frau Geiger bot Helena nichts davon an.

Helena erinnerte sich an ihr Vorstellungsgespräch bei Graziella vor ein paar Jahren, das ihre ehemalige Chefin in ihrem chaotischen kleinen Büro geführt hatte. Sie hatte sich auf Anhieb mit der damals sechzigjährigen Frau namens Graziella verstanden, und im Laufe der Jahre war eine Freundschaft entstanden. Vor neun Monaten hatte Graziella einen Schlaganfall erlitten. Ihre Tochter übernahm das Geschäft und änderte bereits in den ersten Wochen das ganze Konzept. Neue Kleidermarken, neue Ladeneinrichtung, und am Ende sogar ein Roboter. Nur der Name war geblieben. Helena würde sich allerdings nicht wundern, wenn auch der bald zur Geschichte gehörte.

Sie konzentrierte sich auf Frau Geiger, die schon die ganze Zeit auf den Lebenslauf starrte und über das Hotel berichtete. Helena musterte sie. Mit der langen, geröteten Nase und den kleinen Äuglein, die durch das schwammige Gesicht beinahe verschluckt wurden, machte sie einen witzigen Eindruck. Ihre dunkelgraue Kurzhaarfrisur in Topfform glich dem Fell einer Maus und wirkte wie eine schief aufgesetzte Perücke. Die Frau erinnerte Helena an den Maulwurf Grabowski aus dem Kinderbuch.

»Sie sind also Balletttänzerin?«, fragte Frau Geiger mit ihrer nasalen Stimme, nachdem sie ihre Präsentation des Kronenbergs beendet hatte.

»Ich war Balletttänzerin, vor langer Zeit. Ich konnte die Tanzausbildung wegen der Schwangerschaft nicht abschließen.«

»Sie haben Zwillinge«, sagte sie und blinzelte auf den Lebenslauf, als traute sie ihren Augen nicht.

»Ja. Die beiden werden im September sechzehn.«

»Mhm … Hier steht, Sie sprechen Französisch. Ein Diplom haben Sie aber nicht?«

»Nein. Aber ich hatte damals an der Ballettakademie eine Tanzlehrerin aus Paris, die nur französisch mit uns sprach. Es war ihr wichtig, dass wir nicht nur die Begriffe der Ballettsprache beherrschen, sondern uns richtig mit ihr unterhalten können. Später wollte ich meine Kenntnisse nicht verlieren und lese seither regelmäßig französische Bücher.« Wenigstens eine Fähigkeit, die sie hatte. Die Bücher lieh sie sich in der Bibliothek aus, und unbekannte Wörter schlug sie in ihrem alten Wörterbuch aus der Schule nach. So erweiterte sich ihr Wortschatz nach und nach, worauf sie stolz war.

»Französisch hilft Ihnen hier nicht groß weiter«, bemerkte Frau Geiger abschätzig. »Portugiesisch oder eine slawische Sprache wären vorteilhafter, dann könnten Sie sich besser mit den anderen Zimmermädchen verständigen. Und die Gäste reden meistens Englisch. Das können Sie aber nicht?«

»Nur ein wenig Schulenglisch.«

Frau Geiger kritzelte etwas auf ihren Block und stellte anschließend weitere Fragen über Stärken und Schwächen. Am Ende schlug sie Helena einen Probetag vor. »Passt es Ihnen morgen?«, fragte sie.

Helena atmete erleichtert auf. »Ja, das passt.«

»Perfekt. Wenn alles gut geht, unterzeichnen wir Montag den Vertrag und Sie können Dienstag beginnen. Ihr Bruttogehalt beträgt übrigens 3.417 Franken.«

Helena erschrak. Das Glücksgefühl, welches sie soeben verspürt hatte, löste sich jäh wieder auf. 3.417 Franken! Fast siebenhundert Franken weniger als bei Graziella!

Frau Geiger räusperte sich. »Das entspricht dem Mindestgehalt für Mitarbeiter ohne Berufslehre«, sagte sie, da sie Helenas Gedankengänge anscheinend spürte. »Laut Gastgewerbe-Gesamtarbeitsvertrag.«

»Ja, ist gut«, bemerkte Helena kleinlaut. Sie hatte keine andere Wahl.

 

***

 

Auf dem Heimweg radelte Helena ein Stück dem See entlang und überlegte, wie sie mit dem Gehalt durchkommen sollte. Jetzt mit dem Arbeitslosengeld erhielt sie zwar noch weniger, aber sie hatte auf ihr Erspartes zurückgreifen können, das inzwischen fast aufgebraucht war. Sie würden sich in Zukunft mehr einschränken müssen.

Im Discounter achtete sie an diesem Tag noch genauer auf ihr Budget und strich Dinge, die sie nicht unbedingt benötigte. Honig zum Beispiel war reiner Luxus, deshalb wählte sie die kostengünstige Aprikosenmarmelade. Und das Haarshampoo brauchte sie nicht, sie konnte das Alte nochmals verdünnen.

Als sie ihre Einkäufe in das Fahrradkörbchen lud, begann es zu regnen. Schon zuvor hatten sich allmählich graue Wolkenfetzen über den Himmel geschoben, aber Helena hatte nicht so schnell mit Niederschlag gerechnet. Sie schwang sich auf das Rad.

Eiliger als sonst fuhr sie heimwärts und musste plötzlich an ihn denken. Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie zwei in Südwestfrankreich, der Gironde, auf den Fahrrädern unter immer dunkler werdenden Wolkenfeldern. Vergeblich hatten sie versucht, noch vor dem Regen in ihr Feriencottage zu gelangen. Weil es so heftig herunterprasselte und sie nicht weiterfahren konnten, stellten sie sich in den Offenstall auf einer von Zypressen umgebenen Weide zu zwei Eseln, aßen das aufgeweichte Baguette und den Käse, die sie mitgebracht hatten.

Er war unzufrieden gewesen, weil er den Rotwein nicht öffnen konnte, deshalb neckte sie ihn. Sie alberten herum, kitzelten sich. Lachend sprang sie in die Weide, drehte eine Pirouette und tanzte, so gut es in der nassen Wiese möglich war. Ihr weinrotes Chiffonkleid klebte am Körper, genau wie ihr Haar, doch es kümmerte sie nicht, sie schwebte längst in einer anderen Welt. Sie war glücklich gewesen, das Tanzen ihre Art zu fühlen, ihre Seele flog. Dann spürte sie plötzlich seine Hände um ihre Taille, er hob sie auf und trug sie küssend zum Stall zurück …

Helena erlaubte sich nur selten Erinnerungen an ihn, doch diesmal ließ sie die Bilder zu. Sollte sie den Job im Kronenberg erhalten, würde sie ohnehin andauernd an ihn denken müssen.

Tropfnass stellte sie ihr Fahrrad in den Unterstand, nahm die Einkäufe aus dem Korb und rannte zur Eingangstür. Ihre Wohnung befand sich in einem Fünfzigerjahre-Wohnhaus direkt an der Tribschenstraße. Während viele Gebäude desselben Jahrgangs in dieser Gegend renoviert worden waren, hielt es der Besitzer ihres Wohnhauses nicht für notwendig Investitionen zu tätigen. Das sah man dem Haus an, es schimmelte von innen wie von außen förmlich vor sich hin. Der beige Beton war überzogen von gräulichen Flecken, die klapprigen Fensterläden stark verblichen und die mit Wellblech verkleideten Balkone wiesen an manchen Stellen Schmutz und Moos auf. Wahrlich ein Schandfleck. Dafür aber sehr preiswert. Für ihre Vierzimmerwohnung bezahlten sie inklusive der Nebenkosten nur 1.300 Franken.

In der Wohnung angekommen steuerte Helena gleich die Küche an. Ihre Tochter Jolina saß am Tisch und trank ein Glas Wasser. »Hey, Mama.«

»Hallo, Schatz, kannst du mir bitte mal helfen?«

Maulend stand Jolina auf und nahm ihr eine Tasche aus der Hand. Helena holte sich im Badezimmer ein Frotteetuch für das nasse Haar und kehrte zurück in die Küche. Jolina hatte bereits begonnen den Inhalt der Einkaufstaschen auszupacken und wegzuräumen. Im Gegensatz zu Helena, die mit ihren ein Meter vierundsechzig immer einen Stuhl nehmen musste, um an die obersten Regale des Wandschrankes zu kommen, gelang es ihrer eins fünfundsiebzig großen Tochter ohne Probleme die Packung Mehl zu verstauen. Sie und ihr Bruder kamen in dieser Hinsicht ganz nach dem Vater. Sie hatten aber nicht nur seine Größe, sondern auch sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar geerbt. Und sein spitzes Kinn. Ansonsten ähnelten sie ihr: blaue Augen, schmales Gesicht mit einer hohen Stirn und einer schmalen Nase.

Helena fiel auf, dass sich Jolina ziemlich schick gemacht hatte. Sie trug ihre hautenge, weiße Röhrenjeans und ihr Lieblingstop mit den hellblauen Streifen. Kleidung, die sie sich vom Weihnachtsgeld ihrer Patentante gekauft hatte. Die langen Locken hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht mit Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche bemalt. Die Schminke hatte sie von ihrer besten Freundin Claire bekommen, ihr weniges Taschengeld reichte nicht dafür.

Claire. Helena spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Seit Jolina im Gymnasium vor einem Jahr Claire kennengelernt hatte – Tochter eines Chefchirurgen und der Inhaberin einer Schweizer Mediengruppe – hatte sie sich stark verändert. Sie legte nicht nur plötzlich mehr Wert auf ihr Äußeres, sondern war auch launischer geworden und machte oft deutlich, wie sehr sie unter ihrer Armut litt. Früher hatte sie das nicht so gezeigt, deshalb war Helena sicher, dass dieser Wandel Claire zuzuschreiben war. Sie hatte Claire nur einmal kurz getroffen. Damals hatte sie das Treppenhaus hier im Wohnhaus gereinigt, weil der Hausmeister in den Ferien gewesen war. Claire hatte sie überheblich gemustert, nachdem die peinlich berührte Jolina sie widerwillig als ihre Mutter vorgestellt hatte.

»Mama!«, riss Jolina sie aus ihren Gedanken.

»Ja?«

»Ich soll dir ausrichten, dass Jonas bei einem Freund essen wird. Ich gehe nachher auch noch weg. Zu Claire. Jane, also ihre Mutter, holt Sushi für uns.«

»Sushi, aha.« Helena verbiss sich den Kommentar, dass sie gegen Sushi mit ihren Nudeln natürlich nicht ankam. Sie mochte es ihren Kindern von Herzen gönnen, dass sie gelegentlich auch mal was Besonderes zum Essen erhielten, aber die Tatsache, es ihnen nicht selber ermöglichen zu können, schmerzte.

»Ich liebe Sushi«, schwärmte Jolina. »Letztes Mal hat Jane vegetarisches mitgebracht. Mit Avocado, Gurken, Ei, Tofu und so. Das war echt voll lecker! Jane ernährt sich übrigens rein vegetarisch. Du solltest sie sehen, sie hat einen hammer Körper für ihr Alter und trägt voll die tollen Klamotten.«

Helena zwang sich ein Lächeln auf. »Schön für sie.«

»Mhm. Oh, kürzlich habe ich übrigens Claires Bruder kennengelernt. Dario. Er beginnt im Herbst sein Medizinstudium in Zürich.«

Helena musterte ihre Tochter aufmerksam. Ihre Augen leuchteten, eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Natürlich, Jolina war verliebt in diesen Dario! Nun war ihr klar, weshalb sie sich so schick gemacht hatte.

»Magst du ihn?«

Schlagartig verzog sich Jolinas verliebter Gesichtsausdruck wieder zu einer coolen Maske. Sie murmelte ein »er ist ganz okay« und drehte sich weg, um die Einkaufstasche zu durchsuchen. »Du hast den Honig vergessen!«, rief sie und hob die Aprikosenmarmelade hoch. »Stattdessen kaufst du das!«

»Es war billiger. Wir müssen zukünftig noch mehr auf’s Geld schauen.«

Jolina verstaute die Marmelade im Kühlschrank. »Noch mehr auf’s Geld schauen? Du bist lustig! Wo sollen wir denn noch sparen? Ich hoffe, du findest bald einen Job. Ach, hattest du nicht ein Vorstellungsgespräch heute?«

»Ja, und es lief ganz gut. Ich kann morgen probearbeiten.«

»Cool. Aber warum müssen wir dann weiter auf’s Geld schauen, wenn du vielleicht bald wieder arbeitest?«

»Weil ich siebenhundert Franken weniger verdienen werde als bei Graziella

»Scheiße!« Jolina setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Welcher Kleiderladen ist das denn?«

Helena faltete die Einkaufstasche zusammen und verstaute sie in der Schublade. Danach goss sie sich ein Glas Leitungswasser ein und setzte sich Jolina gegenüber. »Es ist kein Kleidergeschäft, sondern ein Hotel, das Kronenberg. Ich werde dort als Zimmermädchen arbeiten, falls ich den Job bekomme.«

Jolinas Augen weiteten sich. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«

»Nein.«

»Oh Mama! Du kannst doch keine Zimmer putzen! Ist ja voll peinlich! Findest du nichts Besseres?«

Obwohl Helena die Stelle noch gar nicht hatte, fühlte sie sich verpflichtet, sie zu verteidigen. Außerdem ärgerte sie sich über Jolinas Haltung. »Erstens kann ich sehr wohl Zimmer putzen, zweitens ist es überhaupt nicht peinlich. Und drittens bleibt mir keine andere Wahl, sonst wird mir das Geld vom Amt gestrichen. Jolina, ich habe keine Ausbildung und kann froh sein, wenn ich Arbeit bekomme.«

Jolina stand auf. »Aber ausgerechnet als Zimmermädchen? Es reicht doch schon, dass du hier gelegentlich das Treppenhaus reinigen musst. Claire meinte neulich, als sie dich gesehen hat, dass es bestimmt voll demütigend sein muss, ein Treppenhaus zu putzen. Stell dir ihre Reaktion vor, wenn sie herausfindet, dass du ab sofort auch noch die Scheiße von anderen Leuten wegputzen musst!«

Helena sprang auf und funkelte ihre Tochter an. »Es ist mir so was von egal, was Claire dazu sagt! Sollte ich diesen Job erhalten, dann nehme ich ihn an, ob es dir passt oder nicht. Und wenn Claire ein Problem damit hat, ist sie sowieso keine wahre Freundin.« Helena holte tief Luft. »Jolina, es zählen doch andere Werte als …«

»Hör auf mit deinem Scheiß!« Jolina stiegen Tränen in die Augen. »Claire ist toll! Ihre Familie auch. Dank ihnen lerne ich endlich mal eine andere Seite des Lebens kennen. Eine schöne!« Sie rannte aus der Küche, und kurz darauf hörte Helena, wie ihre Zimmertür zuknallte. Sie setzte sich wieder und trank einen Schluck Wasser. Solche Wutausbrüche war sie von Jolina gewohnt, deshalb wusste sie auch, dass es in diesem Moment überhaupt nichts bringen würde, mit ihr zu reden.